Spielzeit:
738 Minuten
Ich gehöre wahrscheinlich zu den wenigen, die Kane & Lynch 2 tatsächlich in guter Erinnerung behalten haben. Damals, bei Spielern und der Presse, stieß dieses ungewöhnliche Experiment kaum auf Gegenliebe. Ich mochte es für seine surreale Ästhetik, den Handkamera-Stil und seine konsequente Unbequemlichkeit. Doch in den letzten Jahren fragte ich mich immer wieder: Wie würde ich es heute empfinden? War mein damaliger Eindruck nur flüchtige Überwältigung, die einer erneuten Betrachtung nicht standhalten würde?
Also fasste ich mir ein Herz und spielte Kane & Lynch 2 ein zweites Mal durch. Das überraschende Ergebnis: Ich finde es heute interessanter und mag es sogar noch mehr als damals.
Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe:
Einerseits hat sich meine Perspektive auf Spiele in den letzten Jahren vertieft. Während ich nach meinem ersten Durchgang um Worte rang, um das eigenwillige Spielgefühl zu beschreiben, ist mir heute viel klarer, dass Kane & Lynch 2 am besten als "Mood Piece" zu fassen ist, ähnlich wie Errant Signal es für Quake II nutzte. Steuerung, Mechaniken, Grafik, Sound – alles dient hier als Textur, nicht als kohärentes Ganzes. Wie seine Story ist das Spiel als Ganzes kaum abgeschlossen oder durch ein klares Konzept zusammengehalten.
Der Handkamera-Filter lässt selbst grobe Assets gespenstisch echt wirken, während sie in extremen Kontrasten und Lichtüberblendungen untergehen. Dieses oft collagierte Bild besitzt eine dunkle, aber immense Schönheit. Das grandiose Sounddesign ist eine surreale Melange aus Stadtchaos, verzerrten Stimmen und verlorenen Melodien, die die Grenze zwischen Hintergrundgeräusch und Soundtrack verschwimmen lassen. Das Gameplay oszilliert zwischen einer subtil unbequemen Steuerung und dem Kontrast zwischen der brutal-tangiblen Wucht der Feuergefechte und ihrer ermüdenden Monotonie. Man ist ständig aktiv, aber nie ganz in Kontrolle. Die gesichtslosen Gegner verschwimmen vor den Augen der unangenehmen Protagonisten.
Aus flirrenden Lichtkollagen, dem Unheimlichen, surrealen Schemen und verworrenen Klängen schält sich eine unglaublich eindringliche Stimmung von überwältigender Verlorenheit, Bedrängung und Verzweiflung. Nichts ist hier klar definiert; alles verschwimmt zu Mustern. Es macht selten Spaß, aber ist intensiv und auf eine morbide, zynische Art wunderschön.
Der zweite Faktor ist das veränderte Klima in der Spielelandschaft. Nach dem Indie-Boom und Titeln wie "Spec Ops: The Line" bin ich überzeugt: Wäre Kane & Lynch 2 heute als Indie-Projekt statt als AAA-Vollpreistitel erschienen, hätte es weitaus mehr Begeisterung erfahren. Es nutzt seine Elemente auf eine extrem unkonventionelle Weise, richtet sich in seiner surreal-sperrigen und morbiden Erscheinung konsequent an Erwachsene und setzt Grafik und Sound einzigartig ein – mit Einflüssen, die sich später in Spielen wie Battlefield oder Metro zeigten.
Kane & Lynch 2 demonstriert eindrucksvoll, wie man ein ganzes Spiel einer Stimmung widmen kann – abseits von Zielen, Botschaften, Story oder Mechaniken. Es ist kein klassischer "Spaßmacher", aber ein extrem unterschätztes und phasenweise brillantes Experiment, gerade weil es alles dieser allumfassenden Atmosphäre unterordnet.
👍 : 2 |
😃 : 0